Michelangelo reckt seinen Kopf aus der Stalltür – weißes Haupthaar mit einer dunkelgrauen „Mütze“ zwischen den aufgestellten Ohren. Seine riesigen, schwarzen Augen schauen neugierig und ein bisschen ängstlich in die Runde. Michelangelo ist ein sechs Jahre alter Alpakahengst der langhaarigen Rasse Suri. Er wird für die nächsten anderthalb Stunden das Tier an meiner Seite sein. Als Reporter begleite ich an diesem warmen Spätsommertag Ende September die Alpakawanderung unter Führung von Katharina Kraft von Wedel. Zusammen mit ihrem Mann Hartwig betreibt die 44-Jährige das Unternehmen in Oschatz.
Michelangelo ist einer von elf Hengsten, die an diesem Tag auf Wanderschaft gehen. Wandern mit Alpakas liegt deutschlandweit im Trend. Die Zahl der Alpakas hat sich im vergangenen Jahrzehnt bundesweit etwa vervierfacht. Das Selfie mit einem der flauschigen Tiere steht für die meisten Teilnehmer der Wandergruppen ganz oben auf der Wunschliste. Auf Instagram finden sich unter dem Hashtag „Alpaca“ weltweit Millionen Beiträge – kostenloses Marketing für die Touranbieter.
„Bitte die Tiere auf der rechten Seite gehen lassen und am Anfang die Leine nahe am Kopf fassen. Später kann man die Leine etwas länger lassen“, sagt Katharina Kraft von Wedel. Ich fasse beherzt zu. Michelangelo schaut mich aus seinen unergründlichen Augen skeptisch an. Lautlos setzt sich mein tierischer Begleiter auf der Bitumenstraße zwischen Remsa und Grauschwitz in Bewegung. Seine Hufe klappern nicht, sie besitzen ein weiches Sohlenpolster. Michelangelo bewegt seine Beine im Passgang – so wie Dromedare oder Kamele. Denn Alpakas zählen zur Familie der Kamele.
Auf den Weiden der Alpakafarm in Remsa stehen rund 150 Tiere. 45 Fohlen wurde in diesem Jahr geboren. Bewirtschaftet wird der Betrieb von der Familie Kraft von Wedel, auch die Kinder (8, 12, 13 und 15 Jahre alt) helfen mit. Geld verdient das Unternehmen
Sachsen Alpakas Wiederoda/Remsa mit dem Verkauf der gezüchteten Tiere an andere Züchter oder an Freizeithalter. Im Hofladen, der sich im Firmensitz Wiederodaer Schloss befindet, werden Wolle, Kleidung, Kuscheltiere oder Bettwaren – alles in Handarbeit aus Alpakawolle hergestellt – verkauft. Weitere Standbeine sind die Ausbildung von Alpakas für Therapiezwecke und eben die Alpakawanderungen.
Wir wandern jetzt an den Alpakaweiden vorbei, sehen die Stuten mit ihren Fohlen. Der Alpakahengst lässt sich jetzt sogar von mir an seinem langen Hals streicheln. Das Fell ist wuschelweich. Nicht ohne Grund wird es in seiner ursprünglichen Heimat „Vlies der Götter“ genannt. Alpakafasern zählen zu den wertvollsten Naturfasern, die es auf der Welt gibt.
Nach einer Weile erreichen wir den ersten Rastplatz. Auf der Wiese am Wegesrand macht sich Michelangelo sofort über das frische Gras her. „Jetzt geht’s weiter“, sage ich. Und zum ersten Mal spricht Michelangelo mit mir. Der nörgelige Laut klingt wie „Nö“.
Vor uns liegt noch über die Hälfte der insgesamt reichlich vier Kilometer langen Wegstrecke. Kurz vor Grauschwitz gibt es einen kleinen Aufreger. Der Karabinerhaken an der Leine des Alpakahengstes Talisman hat sich von selbst gelöst, was normalerweise nicht vorkommt Das Tier entwischt seiner Begleiterin. Nach ein paar Minuten haben Katharina und Hartwig Kraft von Wedel mit vereintem Geschick Talisman wieder eingefangen. „Alpakas sind Herdentiere, die entfernen sich nie weit von den anderen Tieren“, sagt die Chefin der Wandergruppe.
Kurz vor dem Ortsschild von Grauschwitz – die Wanderroute führt quer durch das Dorf – stellt Michelangelo die Ohren auf, wirkt unruhig und wird langsamer. Und schon ist der Grund seiner Verunsicherung zu hören. Aus einem Gehöft tönt wütendes Gebell, andere Hunde stimmen ein. „Vor Hunden haben die Alpakas Angst und würden am liebsten wegrennen“, sagt Katharina Kraft von Wedel. Dann müsse man die Leine etwas fester fassen.
Geschafft! Wir haben Grauschwitz mit seinen Hunden hinter uns gelassen und wandern wieder auf freier Flur – vor uns die Mühle, rechter Hand ist der Kirchturm von Ablaß zu sehen. Und da geht es auch schon auf den Lutherweg.
Nach anderthalb Stunden und reichlich vier Kilometer Wegstrecke sind wir wieder auf dem Gehöft in Remsa angelangt, die entspannte Wanderung ist zu Ende. Auf den letzten Metern verfällt Michelangelo in einen leichten Trab. Dann wird die Stalltür geöffnet. Ich gebe meinem Alpakahengst zum Abschied noch einen leichten Klaps auf den Rücken und sage: „War schön mit dir.“ Ob meine Wanderbegleitung das genau so sieht, bleibt sein Geheimnis. Nicht mal sein brummiges „Nö“ lässt sich Michelangelo entlocken, bevor er im Stall verschwindet.